Wie entsteht Ordnung, die Wirklichkeit heißt? Wieso kann nicht alles gleich so eingerichtet sein, dass es sich nicht mehr verändert, habe ich mich immer gefragt? Wohl meinte ich, etwas greifen zu wollen und dann weiterzugehen, ohne mehr daran denken zu müssen, dass sich alles um mich herum bewegt. Alles erstarrt und bleibt an seinem Platz. „Die verdinglichte Subjektivität des Erwachsenseins“ – wie war ich dorthin gekommen? Ein paar Wege, Symbole, bekannte Gesichter, ist daraus schon meine Stadt geboren, die sich keiner zweiten Person darstellt? Wann wollte ich ein anderer Autor sein, in einer anderen Sprache; der anders lernt zu gehen, über sein tägliches Schreiben sich verändert, ohne heranzukommen an das, was dies ausmacht. Vermessen nichtexistenter Dinge. Es ist mir passiert, ein paar anderen, als eine weitere Geschichte.
Level 1 – Fragen der Technik
Alain-Fournier, der im ersten Jahr des Ersten Weltkriegs gefallen ist, taucht auf einer alten Klatschkarte der Fußball-Europameisterschaft 1992 in Schweden wieder auf – einer meiner Lieblingskarten, die mich viele Kindheitsjahre begleitete und auf der ein junger Mann mit langer schwarzer Mähne schräg über mich schaut. Sie war schon legendär, als ich vier Jahre später begann, meine frühesten Sammlungen zu archivieren und bemerkte, dass die Gedanken, die sich mit dem Tauschen, Kleben, Ordnen, Kaufen und Bestellen von seltenen Stickern beschäftigen, hier in der Erinnerung ihren Ursprung nahmen. Kein Mensch schien sich der Wichtigkeit dieses Anliegens und der Besonderheit des Designs dieser Karten bewusst. Mein Freund und ich wussten dagegen sehr wohl, dass wir die richtige Zeit miterlebt hatten und es unsere Aufgabe war, diese Nische zu dokumentieren. Wir trafen uns dienstags bei den Ruinen, um uns den Anschein eines Vereins zu geben und zeigten uns die neuesten Errungenschaften in unseren schwarzen A5-Mappen aus Kunstleder, die innen aus zwanzig Seiten zu je vier Folientaschen bestanden, in denen wir chronologisch oder thematisch die Sticker einsortierten. Mitgliedskarten wurden gezeichnet, jeder besaß eine eigene Nummer und Farbe. Wir brauchten im Schnitt vier Tage, um eine neue Leidenschaft zu entwickeln und mit eigenen Regeln auszustatten.
I
Der Alltag in den 90ern ist eine Generation her und deshalb gerade überall auf der Straße zu beobachten. Was machte ihn aus, wovon war er durchdrungen, was war das, was wir als selbstverständlich ansahen, weil wir in diese postmoderne neoliberale Realität hineinwuchsen? Wo wuchs ich auf, in welchem Erfahrungsraum, was war das für ein Wettbewerb der Ideen und Konkurrenz der Phantasien?
Die kapitalistische Konterrevolution aus Privatisierung, Deregulierung und Monetarisierung, die seit 1973 durch State Building, Pinochet und Thatcher initiiert worden war, krachte gerade mit Verspätung auf viele Staaten, auch in Westeuropa, aber noch viel stärker in Form der Systemtransformation der postsozialistischen Staaten, derartige wirtschaftliche Schocktherapien von neoliberalen Musterschülern wie Leszek Balcerowicz über sich ergehen lassen mussten, dass ihr Meister Friedrich Hayek nur davon träumen konnte. Wir hatten es aber auch nicht anders verdient und die Globalisierung und Allverfügbarkeit um die Ecke. Angst und Unsicherheit waren besser als Langeweile. Privatsender, Prekarisierung und mediale Ausgrenzung einer durch Werbung und Mitmachspiele gehetzten Konsumgesellschaft und die Alltäglichkeit der Überschuldung durch winkende Kredite, die die Leere kurzfristig füllen oder wenigstens zu kompensieren versprechen, gab es gratis dazu. Mehr Frauen und Personen, die sich nicht als Cis-Männer identifizierten, hatten mittlerweile ein eigenes Konto, ohne ihren früher gesetzlich legitimierten Ehemann fragen zu müssen, mehr Frauen waren Singles, geschieden und alleinerziehende Mütter oder sahen die Karriere erstmal als wichtiger, als Möglichkeit, finanziell unabhängiger und frei von den Erwartungen der patriarchalen Gesellschaft zu werden.
II
Das letzte Spiel der legendären jugoslawischen Mannschaft (die blauen Trikots) datiert vom 25. März 1992 gegen die Niederlande (0:2). UN-Sanktionen wegen des Kriegs, die am 1. Juni erlassen wurde, wenige Tage vor EM-Beginn, verhinderten ihre Teilnahme. Der spätere Europameister Dänemark rückte für sie nach.
1994 habe ich zum Völkermord in Ruanda an den Tutsi noch nichts mitbekommen, nichts nichts von der Verschärfung der Asylgesetze 1992/93. 1999 war Kosovo-Krieg, diese Region kannte ich aus den früheren medialen Kriegsdiskursen, das spielte am Rande von Europa, der mir bekannten Welt. Es spielte und war doch da, nur betraf es mich nicht, nur ein paar Leute, die geflohen waren und jetzt am Rand meiner Stadt wohnten, wo, wusste ich nicht genau. Es gab die Brandanschläge auf Asylbewerberheime Anfang der 90er, rassistische Pogrome in Mölln, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und weiteren Städten in Ost und West, da durfte ich noch kein Fernsehen gucken, es gab die Treuhand mit aufgeteiltem Boden, überwucherten und getilgten Mauerreden. Telekom-Aktien später, Verkauf von Handylizenzen, mein Vater, in 700 Kilometer Entfernung, steigt ein aber für den dot-com-Boom reicht’s und die Hoffnung auf Mittelstands-Aufstiegsgeschichten, Imitationen, Unabhängigkeiten (wofür auch sonst migrieren). Aber ich wusste von den Erzählungen, die MTV seit `97 und Viva seit `94 erzählten. Sie retteten mir die Nachmittage, indem sie sagen: du bist dabei, du kannst einer von uns werden! Und selbst wenn nicht, zeigt es nur, dass es eine andere Welt der Stars und der Geschichten gibt, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben. Die es geschafft haben und aus ihrer Glitzer- und Scheinwelt entkommen sind, spüren sich im verstopften Zeitgeist. Immer wenn ich CDs im Elektrohandel hören wollte, fragte ich mich, ob ich auch ohne Geld in der Stadt sein durfte. Statt auf den Balkon mit den Strauchtomaten, die die Privatheit der Außenbalkone beschützten, zu halten, stieg ich in die Außenfassaden der retroavantgardistischen Visionen ein, die in Anlehnung an die Twenties 70 Jahre später hochgezogen wurden, nur um kapitalistische Orgien im Stil von Kevin allein in New York zu feiern. Am Abend Spielshows, die abgehalten wurden, damit die Glücksfee was zu tun hat und die eine ausgewählte Person dieser Stadt zu küren, die das Schicksal der Welt fortan prägen würde. Marketing regelt den Rest.
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